Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) führt seit 2020 einen Branchendialog mit der Automobilindustrie durch, um die menschenrechtliche Lage entlang der globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten der Automobilindustrie zu verbessern und Unternehmen bei der Umsetzung ihrer Sorgfaltspflicht zu unterstützen. In diesem Rahmen besuchte eine Projektgruppe vom 27. Februar bis zum 3. März 2023 Mexiko.
Mexiko ist eine wichtige Region für die deutsche Automobilindustrie – sowohl als Standort für eigene Werke als auch für die vorgelagerte Lieferkette. Gleichzeitig begegnet das Land menschenrechtlichen Risiken, die sich über alle Stufen der Wertschöpfung erstrecken. Derzeit verfügen Unternehmen zum Teil über betriebseigene Beschwerdekanäle, es gibt jedoch bislang keinen wirksamen Mechanismus, der die gesamte Lieferkette abdeckt.
Hier setzt die Projektgruppe des Branchendialogs mit ihrer Arbeit an. Zusammen mit den Unternehmen Mercedes-Benz, BMW, ZF Friedrichshafen und Robert Bosch, deutschen und mexikanischen Nichtregierungsorganisationen (NROs) sowie dem Deutschen Institut für Menschenrechte hat BMAS in einem zweijährigen Prozess einen unternehmensübergreifenden Beschwerdemechanismus (UBM) konzipiert. Dieser soll Ressourcen bündeln, als Frühwarnsystem dienen und den Zugang zu Abhilfe für Betroffene verbessern. Aktuell laufen die Vorbereitungen, damit der Mechanismus ab Herbst 2023 seine Arbeit aufnehmen kann. Perspektivisch soll der UBM zudem auf weitere Unternehmen und Länder ausgeweitet werden.
Ziel der Delegationsreise war es, die Ergebnisse aus der Konzeptphase in die Gespräche vor Ort zu tragen, das Wissen für den lokalen Kontext zu vertiefen und gemeinsam mit den lokalen Akteur*innen die detaillierte Umsetzung zu planen. Dazu hat sich die Projektgruppe unter anderem mit staatlichen Akteur*innen, Vertreter*innen der mexikanischen Standorte deutscher Unternehmen, lokalen Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft ausgetauscht. Die Gruppe kam darüber hinaus mit mexikanischen Institutionen in Kontakt, die Betroffene vertreten. Menschenrechtsorganisationen, Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen internationaler Organisationen steuerten weitere Erkenntnisse bei.
Warum es aus unternehmerischer Perspektive einen übergreifenden Mechanismus braucht, erklärt Oliver Winter, Leiter des Center of Competence "Human Rights Management" (dt.: Managementsystem für Menschenrechte) bei der BMW-Group: Die Einrichtung eines wirksamen Beschwerdemechanismus zur Erfüllung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten ist für die BMW-Group von großer Bedeutung. Während die Abdeckung des eigenen Geschäftsbereichs und ggf. der direkten Vertragspartner noch durch das Unternehmen selber erfolgen kann, benötigt ein wirksamer Beschwerdemechanismus für die tiefere Lieferkette ein gemeinsames Vorgehen aller beteiligten Unternehmen unter Einbezug der relevanten Stakeholdergruppen. Der UBM Mexiko ergänzt die bereits bestehenden Beschwerdemechanismen der BMW-Group und konzentriert sich auf menschenrechtliche Risiken und negative Auswirkungen in den tieferen Wertschöpfungsketten (inkl. Tier-n), speziell im Hinblick auf vulnerable Personengruppen, die ein einzelnes Unternehmen nur schwer erreichen kann.
Ein weiterer Vorteil eines branchenübergreifenden Beschwerdemechanismus ist, dass er als Frühwarnsystem hinsichtlich branchenweiter Menschenrechtsprobleme fungieren kann und dabei auch Auswirkungen auf andere Branchen haben kann:
Die IG Metall erwartet von den Unternehmen der Automobilbranche, dass sie sich aktiv in den geplanten unternehmensübergreifenden Beschwerdemechanismus einbringen. Dazu zählt, diesen Kanal gegenüber den Rechteinhaber*innen, speziell den Beschäftigten, öffentlich bekannt und barrierefrei zugänglich zu machen sowie ihn in das unternehmerische Compliance-Management zu integrieren. Der Mechanismus kann ein Frühwarnsystem für branchenweite Beschwerdethemen bieten. Speziell betrifft dies die Themen Arbeits- und Gesundheitsschutz, Entlohnung, Diskriminierung und Beschneidung kollektiver Rechte, z.B. die auf Vereinigungsfreiheit und Tarifverhandlung. Ein wirksamer Mechanismus im Automobilsektor kann dabei Strahlwirkung auch auf andere Branchen haben. In jedem Fall muss die aktive Einbindung von freien und demokratischen Gewerkschaften in Konzeption und Wirksamkeitskontrolle des Mechanismus obligatorisch sein.
Des Weiteren stärkt ein branchenübergreifender Beschwerdemechanismus die Durchsetzung der Rechte von Arbeitnehmer*innen und anderen potentiell Betroffenen.
Der UBM wird es Rechteinhaber*innen entlang der gesamten Auto-Lieferkette, d.h. vom Rohstoffabbau bis hin zur Fertigung in Mexiko, ermöglichen, sich mit ihren Beschwerden an einen unabhängigen Mechanismus zu wenden. Durch die Orientierung an den UN-Leitprinzipien wird der UBM u.a. legitim, zugänglich, berechenbar und transparent sein und vor allem Rechteinhaber*innen stark einbeziehen. Damit geht der Mechanismus deutlich weiter als bestehende unternehmenseigene Beschwerdesysteme. Das hilft, bestehende Macht- und Informationsungleichgewichte zwischen (potenziell) Betroffenen und Unternehmen abzubauen und das Vertrauen in das Verfahren zu erhöhen. Durch das Projekt können Rechteinhaber*innen in Mexiko besseren Zugang zu Abhilfe erhalten und Unternehmen rechtzeitig präventive Maßnahmen ergreifen. Dafür muss das Pilotprojekt aber auch einen Beitrag hin zu mehr Lieferkettentransparenz leisten, damit Rechteinhaber*innen wissen, in welchen Fällen sie sich an den UBM wenden können.
Im Gegensatz zu reinen Industrieinitiativen ist der UBM von Beginn an in einem Multi-Stakeholder-Prozess entstanden. Bereits während der Konzeption wurden deutsche und mexikanische NROs eingebunden, und auch für den Betrieb ist eine Multi-Stakeholder-Governance-Struktur geplant. Dieses Verfahren erlaubt es, möglichst vielfältige Perspektiven einzubeziehen. Warum die Einbindung von verschiedenen Stakeholdern auch aus mexikanischer Perspektive für die Umsetzung des UBM sinnvoll ist, erläutert Esperanza Gutiérrez, Koordinatorin der sogenannten Núcleo-Gruppe:
Der UBM hält sich an die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die darlegen, dass außergerichtliche operative Beschwerdemechanismen ein Mittel für Rechteinhaber*innen sind, ihre Anliegen vorzubringen und angemessene Wiedergutmachung zu erhalten. Der UBM basiert auf einem Multi-Stakeholder-Dialog, der lokale zivilgesellschaftliche Organisationen mit Expertise im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte einschließt. Dies stellt sicher, dass der UBM vom Design bis hin zum Betrieb zugänglich, wirksam, ausgewogen und transparent ist. Vor allem aber werden die Rechteinhaber*innen in den Mittelpunkt aller Bemühungen gestellt. Ein solcher Multi-Stakeholder-Dialog verbessert auch die Fähigkeit des UBM, auf lokale Gegebenheiten zu reagieren, Risiken besser einzuschätzen und rechtzeitig Informationen zu generieren, die zur Verhütung und Minderung potenzieller Menschenrechtsverletzungen benötigt werden.
Die beteiligten Unternehmen wiederum erhoffen sich durch den Multi-Stakeholder-Ansatz eine höhere Wirksamkeit des Beschwerdemechanismus. Jochen Berner, Head of Sustainability Strategy (HES) bei der ZF Friedrichshafen AG:
Die Chance dieses Projekts liegt darin, zusammen mit der Zivilgesellschaft, als Unternehmen einen deutlichen Schritt auf die Rechteinhaber*innen zugehen zu können. Die menschenrechtliche Situation vieler Beteiligter in der automobilen Wertschöpfungskette kann nur verbessert werden, wenn wir gemeinschaftlich und auf Augenhöhe handeln. Der unabhängige Mechanismus kann die Brücke sein, die Sektoren überwindet und Teilhabe ermöglicht. Dies alles sind wichtige Gründe, weshalb ZF sich beteiligt, und die Entwicklung des Projekts aktiv unterstützt.